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Heft Nr.2 (Jg. I, H.2/2006) (ISSN 1862-9695; ISBN 978-3-8322-5670-8)



Gerd Vonderach
Perspektiven regionaler Peripherisierung in Deutschland (S. 9-35)

In dem Beitrag wird versucht, für die Auswirkungen der gegenwärtigen wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung auf ländliche Regionen eine gesellschaftsgeschichtliche Einschätzung zu gewinnen. Dabei werden sowohl Wandlungen im Verlauf früherer Industrialisierungsprozesse als auch regionalhistorische Unterschiede der ökonomischen, politischen und kulturellen Entwicklung beachtet. Für die Gegenwart sind insbesondere der auch in ländlichen Regionen erfolgende Übergang zu postagrarischen Erwerbs- und Lebensweisen, die umfassende räumliche Mobilität und die demographische Entwicklung von Bedeutung. In den nächsten Jahrzehnten sind wachsende und konfliktträchtige regionale Ungleichheiten zu erwarten. Bevölkerungsrückgänge und Abwanderungen führen zu einer problematischen Peripherisierung vieler ländlicher und auch altindustrieller Regionen, während sich das "Humankapital" auf einige verbleibende Wachstumsregionen konzentrieren wird.

Jovica Lukovic
"Das Land soll dem gehören, der es selber bestellt." Die jugoslawische Agrarreform der Zwischenkriegszeit - von der Landzuteilung zur Lösung der Bauernfrage? (S. 36-54)

Der Beitrag analysiert einerseits die Strategie des Staates, durch die Agrarreform den kleinen Landbesitz zu fördern; andererseits wird verfolgt, inwiefern die Erwartungen der Bauern selbst in Erfüllung gingen. Im Zentrum steht die Leistungsfähigkeit des Kleinbesitzes, seine Bedeutung für die jugoslawische Landwirtschaft einerseits und die Subsistenzsicherung der Kleinbauern andererseits. Die Argumentation orientiert sich an der zeitgenössischen Diskussion zwischen Befürwortern und Gegnern der Agrarreform. Die Untersuchung kommt zu dem Schluß, daß die Agrarreform nicht über das Stadium einer bloßen Bodenreform hinauskam - und noch weniger die sozialen Probleme, die sogenannte Bauernfrage, lösen konnte. Die Bauern konnten durch eigenen Kleinbesitz nicht ihre Subsistenz sichern; dem Staat gelang es nicht, die Armut zu beseitigen. Er verstand es nicht, die bäuerliche Arbeit sinnvoll zu ordnen, wodurch ein großes soziales und wirtschaftliches Potential verschwendet wurde.

Gerhard Kirfel
Bäuerliches Leben in der Wesermarsch - ein Jahrhunderte langer Kampf gegen das Wasser (S. 55-78)

Vor 50 Jahren begann man in Moorriem, einer historischen Landschaft in der Wesermarsch, mit einer Flurbereinigung, nach der zum ersten Mal in der viele Jahrhunderte währenden Geschichte "das Land seine Kinder ernähren" konnte. Zuvor hatten große Wassermassen von der nahen Geest wie auch aus den angrenzenden Flüssen Weser und Hunte, auch Niederschläge, diesen Raum immer wieder unter Wasser gesetzt. Im "Moorriemer Becken" bildete sich Marsch, und auf Flußsedimenten wuchsen Moore. Eine Art Schichtstufenlandschaft entstand, aus deren Zentrum, dem Sietland, nur bei Niedrigwasser in den Strömen Wasser mühsam abgeleitet werden konnte. Voraussetzung für diese Inkulturnahme des unwirtlichen Areals war der Bau von Deichen, für deren Instandhaltung jeder Siedler auf seinem Gelände aufzukommen hatte. Bei gerechter Aufteilung Moorriems ergab sich, von den Flüssen ausgehend, ein streifenförmiges Flurbild äußerster Seltenheit. Die tägliche Arbeit auf diesen unterschiedlich wertvollen Böden, in deren Zentrum vor allem Rinder-, aber auch Pferdezucht standen, war geprägt vom schweren Kampf gegen das Wasser, der immer wieder verloren wurde.

Georg W. Oesterdiekhoff
Irrationale Denk- und Verhaltensweisen am Beispiel von Hexerei und Magie und ihr Stellenwert in der Kulturgeschichte der Menschheit (S. 79-104)

Der Aufsatz zeigt, daß Hexerei und Magie entwicklungspsychologisch und nicht soziologisch erklärt werden müssen. Es handelt sich um kognitive Phänomene, die Resultat präoperationaler Denkstrukturen sind. Aufgrund der Dominanz präoperationaler Kognitionsstrukturen ist zu erklären, weshalb Magie und Hexerei in allen vormodernen Kulturen geherrscht haben. Die Entwicklung formal-operationalen Denkens in der Industriemoderne, mithin die Überwindung der urtümlichen durch die zivilisierte Psyche und Mentalität, ist die Ursache für den Untergang des archaischen, steinzeitalten Denkens und Hexenglaubens.

Elisabeth Schilling
Von kollektiven Zeitvorstellungen zur individuellen Zeitkollage. Qualitative Studie zum Wandel von Zeitvorstellungen (S. 105-130)

In diesem Artikel wird der Wandel von Zeitvorstellungen untersucht. Die besondere Beachtung wird dem Einfluß von Globalisierung, Individualisierung und Heterogenisierung der Gesellschaft auf die individuellen und subjektiven Zeitvorstellungen geschenkt. Zeitvorstellungen werden als Ausdruck sozialer Zeit nach Sorokin und Merton verstanden. Sie sind einerseits kulturell geprägt, andererseits individuell veränderlich. Es stellt sich die Frage, welche Faktoren zum Wandel der kollektiven Zeitvorstellungen beitragen. Basierend auf der Analyse der zeitsoziologischen Forschung wird der Begriff der Zeitkollage eingeführt, definiert und operationalisiert. Im Anschluss wird ein Untersuchungsdesign vorgestellt, dies erlaubt, die Existenz der Zeitkollage empirisch zu überprüfen. Dabei werden Befragte, die in ihren Herkunftsländern leben und arbeiten, sowie Berufsmigranten interviewt. Schließlich wird über die Ergebnisse der qualitativen Studie berichtet. Es kann gezeigt werden, daß sich Zeitkollage besonders stark in der Gruppe der Berufsmigranten entwickelt. Dies unterstützt die These, daß in der Zukunft, mit den wachsenden Globalisierungstendenzen, die Zeitkollage weiter an Bedeutung und Verbreitung zunehmen wird.